Vereinbarkeit ist ein großes Wort, das viel Spielraum für persönliche Interpretation lässt.
Wie wichtig ist Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben als Ärztin mit oder ohne Kinder? Bedeutet gelungene Vereinbarkeit, für Familie, Beruf und Freizeit gleichermaßen Zeit zu haben? Oder ist gelungene Vereinbarkeit, dass beide Elternteile Vollzeit arbeiten können und die Kinderbetreuung flexibel angepasst werden kann? Ist eine gesunde Vereinbarkeit in unserem Job überhaupt möglich?
Was bedeutet dieses völlig überstrapazierte Wort, mit dem jeder etwas anderes verbindet? Partner ohne Kinder, Alleinerziehende, Großfamilien, Großstadt oder Landleben – die Bedingungen sind überall anders.
Bei Klinikärzten und –ärztinnen ist es nach der Thematik der Arbeitsbelastung bekanntermaßen der zweithäufigste Grund für Unzufriedenheit.
Wir wissen also zumindest eines: das Thema macht uns unglücklich.
„Vereinbarkeit im Gesundheitswesen“ ist ein Forschungsgebiet, das in Deutschland ziemlich leer da steht. Alles was wir wissen, ist, das Männer wie Frauen gleichermaßen unzufrieden sind. Für mich eine wichtige Erkenntnis. Vereinbarkeit ist also kein Frauenthema, sondern sollte geschlechtsunspezifisch betrachtet werden. Unzufriedenheit hingegen ist ziemlich gut erforscht.
Unzufriedenheit reduziert berufliches Engagement, beeinträchtigt die Gesundheit und gefährdet eine längerfristige Personalbindung. Arbeitskraft geht verloren.
Bedeutet das, dass Vereinbarkeit nicht nur gelingen muss, sondern auch gesund sein darf? Ein Ziel, das Arbeitnehmer wie Arbeitgeber gleichermaßen verfolgen?
Wie erreichen wir Zufriedenheit in diesem Bereich? Eine Lösung für alle scheint ja irgendwie nicht zu passen.
Gelungene Vereinbarkeit ist individuell. Manche Paare sind zufrieden mit einer Ganztagesbetreuung der Kinder und finden ihre Erfüllung in einer Vollzeitarbeitsstelle. Andere sehen ihre Zufriedenheit darin, die Betreuung der Kinder auf längere Zeit selbst zu übernehmen. Und die Kinder? Wie sehen die das? Was bedeuten in diesem Zusammenhang Qualität und Quantität? Wo bleibt überhaupt die eigene Freizeit, auch ohne Kinder? Was sagen die Arbeitgeber? Und wie regelt man die Versorgung der plötzlich pflegebedürftigen Großmutter?
Flexibilität auf allen Seiten. Wie soll das zu schaffen sein?
Das Gesundheitswesen scheint genau an diesem Punkt besonderen Veränderungsbedarf zu haben. Gerade in chirurgischen Disziplinen dominiert noch immer der Gedanke der scheinbar notwendigen Dauerpräsenz. Dabei hat die Realität die starren Strukturen längst überholt. Die Anzahl der Teilzeitärztinnen und Teilzeitärzte steigt in der Klinik, in der ambulanten Versorgung, als Arzt in Weiterbildung oder als Oberarzt. Elternzeiten werden von Vätern und Müttern genommen. Ärzte sind sektorenübergreifend sowohl in der ambulanten Versorgung als auch in der Klinik angestellt.
Job-Sharing-Angebote, Telemedizin und Arbeitnehmerüberlassungen vervollständigen das bunte Bild. Die Flexibilität sehe ich im Alltag bereits an allen Ecken und Enden.
Warum sollten wir uns weiter Strukturen anpassen wollen, die weder in die Gegenwart noch in die Zukunft passen?
Stattdessen dürfen wir uns darauf konzentrieren, wie wir selbst dieses System gestalten können. Wie möchten wir Medizin und Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben erleben?
Um Vereinbarkeit zufrieden leben zu können, dürfen wir also bei uns anfangen. Der schwerste, wenn auch wichtigste Schritt. Wie möchtest du als Mutter oder Vater sein? Was macht dich im Beruf zufrieden? Was macht euch als Familie glücklich? In welchen Bereichen möchtest du dich mehr einbringen und in welchen Bereichen zurücknehmen? Wie möchtest du deinen Weg der Vereinbarkeit gehen?
Vereinbarkeit ist ein Prozess. Er beginnt in uns und bei den richtigen Fragen. Nicht in Möglichkeiten, die vor 20 Jahren geschaffen wurden und in die wir passen wollen. Verändern können wir nur unseren eigenen Verantwortungsbereich. Das erscheint am Anfang klein. Und doch sind es schlussendlich genau diese Entscheidungen, die eine enorme Auswirkung haben.
Nach meinem ersten Kind bin ich in Vollzeit als Ärztin in Weiterbildung zur Unfallchirurgin zurück in die Klinik. Mein Mann arbeitete Teilzeit. Es bedeutete für uns als Paar, uns mit unseren bekannten Rollenbildern auseinanderzusetzen. Wir wohnen in einer schwäbischen Kleinstadt. Eltern sein durften wir neu denken und erlernen. Über die letzten Jahre lebten wir viele Varianten. Ich Vollzeit zuhause, mein Mann Vollzeit arbeitend, beide Teilzeit, ich Vollzeit arbeitend, mein Mann zuhause.
Kompetenzen erworben und „gearbeitet“ haben wir immer in allen Varianten. Der Schritt ins vermeintlich Ungewisse mochte uns zu manchen Zeiten ängstigen und herausfordern. Dennoch sind die wundervollsten Projekte daraus entstanden.
Wege entstehen, indem wir sie gehen.
Vereinbarkeit ist für mich heute kein Grund zur Unzufriedenheit mehr.
Vielmehr betrachte ich dieses abstrakte Wort als eine Chance. Es ist oftmals das erste Mal auf unserem akademischen Lebensweg, dass wir uns mit uns selbst und unseren Wertevorstellungen auseinanderzusetzen dürfen. Männer wie Frauen. Wir sind in diesem Gesundheitswesen keine Opfer, die den äußeren Bedingungen ausgeliefert sind. Wir sind Gestalter. Wir dürfen Mut haben und ihn leben.
Zufriedenheit. Ein Wort, genauso abstrakt und individuell wie Vereinbarkeit.
Wir dürfen lernen, diesen Werten einen Sinn zu geben. Indem wir uns Arbeitsstellen suchen, die unsere Werte vertreten, fördern wir Arbeitgeber, die diese etablieren. Indem wir bewusst und achtsam mit diesen Wörtern umgehen, verändern wir die Welt der Medizin. Stück für Stück dehnen wir die Grenzen. Flexibilität, die wir uns selbst erschaffen.
Natürlich gibt es einen Haken. Für diesen Weg der Vereinbarkeit bedarf es Achtsamkeit und den unabdingbaren Willen, für sich selbst einzutreten. Das Gute daran? Wer mutig ist, sich mit sich selbst zu beschäftigen, begibt sich nicht nur auf einen eigenen Weg. Sondern auch immer auf einen achtsamen Weg für seine Familie, seine Patienten und Kollegen.
Zusammengefasst: Gesunde und gelungene Vereinbarkeit beginnt bei uns. Nicht bei den Vorstellungen anderer.
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Dr. Madeleine Stuber
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